Die Messe war für mich das Zusammenspiel dreier Faktoren. Da war erstens die Plattform selbst, die der Merz Verlag in den letzten Monaten aus dem Boden gestampft hat. Zweitens das Angebot der einzelnen Verlage und sonstigen Aussteller*innen. Und drittens die Erwartungshaltung und das Nutzungsverhalten des Publikums. Also letztlich ähnlich wie bei einer normalen Messe, aber eben für fast alle Beteiligten Neuland. Und tatsächlich fand ich die Spiel Digital an den Stellen gut, wo die jeweils Beteiligten sich auf die Gegebenheiten gut eingestellt haben, und da misslungen, wo sie es nicht getan haben.
Bei der Plattform selbst gibt es sicher vor allem in Punkto Übersicht viel zu verbessern. Die Themenwelten waren eigentlich keine, denn in diesen waren nur ein paar Links zu Verlagsständen zu finden, wo dann aber ohne weitere Sortierung wiederum das ganze Verlagsprogramm zu finden war. Auch konnte man sich durch diese Wabenstruktur letztlich nicht hindurchbewegen, man hatte nie das Gefühl, dass da etwas zusammenhing. Andererseits habe ich mir in Essen natürlich auch oft so eine praktische Teleportfunktion gewünscht, wenn ich mal wieder nur fünf Minuten hatte, um zu einem Termin am anderen Ende der Hallen zu kommen. Bei der Übersicht über die sogenannten Events wurde zwischendurch nachgebessert. Dass diese überhaupt so unübersichtlich waren, lag aber zu einem guten Teil auch an den Aussteller*innen selbst, die jeden kleinen Rabattlink auf ihre Webseite als Event markiert hatten, sodass spannende Dinge darunter schlicht begraben wurden. Hier hat das Zusammenspiel von Verlagen und Plattform nicht gut funktioniert.
Das Unübersichtlichste war in meinen Augen Discord. Die meisten Verlage hatten hier eine Präsenz, auf die man von ihrem Stand aus weitergeleitet wurde. Leider waren viele dann dort gar nicht anzutreffen; Fragen, die man am Donnerstag in den Chat schrieb, waren am Sonntag noch ohne Reaktion. Die Gruppierung vieler Verlage in fünf Kanäle war auch unglücklich – wenn ich in einem davon gewesen war, ploppten anschließend dauernd Push-Nachrichten auf meinem Bildschirm auf, bei denen gar nicht zu erkennen war, zu welchem Verlag die gehörten. Deutlich besser waren die Verlage dran, die sich ihren eigenen Kanal gebastelt hatten. Dort war dann entsprechend auch mehr los, und in der Regel konnte man schnell jemanden zur Kontaktaufnahme finden. Wollte man später aber zu einem bestimmten Verlag zurück, um zu gucken, ob es mittlerweile eine Antwort auf eine eigene Anfrage gab, musste man sich durch alle fünf allgemeinen Kanäle scrollen, um den Verlag wiederzufinden; oder eben zurück in den Browser gehen und den Verlag dort erneut aufsuchen und anklicken. Da fehlte etwas die allgemeine Übersicht. Für mich fand der wichtigste Teil der Messe, nämlich die Kommunikation, eben auf Discord statt, und das war noch ausbaufähig.
Gut fand ich die Veranstaltung an den Stellen, wo Verlage sich ansprechend präsentiert haben, dauerhaft über einen eigenen Kanal (!) bei Discord erreichbar waren und ihre Spiele, oder zumindest einen Teil davon, zum digitalen Ausprobieren bereitgestellt haben und auch mit Erklärungen und Hilfen zur Verfügung standen. Taiwan Boardgame Design, Helvetiq, Mitra oder Roomiz Games waren hier für mich vorbildlich, um nur mal ein paar positive Beispiele zu nennen, bei denen ich mich länger oder des öfteren aufgehalten habe. Andere Verlage haben das leider gar nicht hingekriegt. Auf deren Seite gab es ein paar Fotos, vielleicht kurze Videos oder Verlinkungen zu Presseberichten, einen Discord-Link, über den niemand erreichbar war (oder auch gleich gar keinen Link), und zur Kontaktaufnahme eine E-Mail-Adresse. Oder einen Link zu einem Shop im Fernen Osten, bei dem die Versandkosten in 50-Gramm-Schritten berechnet werden. Das Gewicht der Spiele war aber auf der entsprechenden Spiel-Digital-Seite gar nicht angegeben – was soll man mit sowas anfangen? In diesen Fällen hatte man das Gefühl, die Verlage wussten nicht, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollten und haben dann einfach gar nichts gemacht. Verkäufe resultieren aus solch einer Vorgehensweise im Zweifelsfall wenige bis gar keine.
Noch etwas, das zu meinem Leidwesen nicht geklappt hat, waren die gemeinsamen Bezugsmöglichkeiten. Bei den rund zehn Ständen, wo ich mal geguckt habe, ob man da was kaufen kann, hatten nur zwei den gleichen Vertriebskanal (Spiel Direkt – aber immerhin schön, dass man da jetzt auch als Privatperson einkaufen kann. Ob das auch nach der Messe so bleibt? Keine Ahnung, es war niemand zu erreichen, um meine diesbezügliche Frage zu beantworten). Ansonsten keine Chance auf einen Pool zum Portosparen. Klar, meine Wünsche sind im Vergleich zu den meisten Besucher*innen eher exotisch, aber bei deutschen Spielen ist mir das auch unwichtig, die kann ich ja auch so im Laden kaufen, Portokosten fallen da nicht an. Bei den Sachen, die man sonst nur in Essen kriegt, fehlte mir diese Möglichkeit leider. Warum die Verlage aus Übersee auf die entsprechenden Angebote nicht zurückgegriffen haben, hat unterschiedliche Gründe: Sie haben nicht gewusst, dass es diese Möglichkeit gibt, es war ihnen nicht wichtig genug, ihre Spiele waren noch nicht fertig, hatten keinen Barcode oder sonstwas. Aber das fehlte einfach. Falls es noch mal so eine digitale Messe gibt, wäre mein wichtigster Wunsch ein einheitlicheres Bestellsystem. Leider kommt das eben nicht auf ein paar Leute an, darüber zu entscheiden, sondern auf Dutzende von Verlagen in aller Welt. Und ob die das so gemeinsam hinkriegen, ist nach der ernüchternden Erfahrung von diesem Mal doch ziemlich fraglich. Ich habe auf der gesamten Messe nichts gekauft, obwohl ich es vorhatte – es gab für mich einfach keine sinnvolle Gelegenheit dazu. Das ist mir noch nie passiert.
Neben der Plattform und dem Angebot der Verlage kam dann auch noch das Publikum dazu. Das war offenbar reichlich erschienen. Ich kann mal aus Publikumssicht sagen, dass ich den Donnerstag noch sehr ernüchternd fand. Dass das System erstmal überlastet war, hat mich nicht so sehr gekratzt, sowas kann passieren, und der Merz-Verlag hat über die sozialen Medien alle Naselang Zwischenmeldungen durchgegeben, also stand man nicht im luftleeren Raum. Aber danach fühlte ich mich erstmal verloren, und ich fand niemanden an den Ständen, die mich interessierten. Nach unserer Radiosendung am Mittag habe ich einfach erstmal Pause gemacht und mit meiner Familie was gespielt. Als ich ein paar Stunden später zurückgekommen bin, war ich entspannter, und über die vier Tage hinweg habe ich mich dann an die Gegebenheiten gewöhnt, bis ich mich gut orientieren konnte und auch immer mehr Spaß an der Sache hatte. Von anderen habe ich gehört, dass sie nach ihrer Erfahrung am Donnerstag nicht mehr wiedergekommen sind. Das ist natürlich legitim, aber sie haben halt auch das Beste verpasst. Wie gut man so eine digitale Messe genießen kann, liegt an vielen Faktoren: wie digitalaffin man ist, wie bereit, sich auf was Neues einzulassen und natürlich auch daran, was einen interessiert. Das ist aber auch genau wie in Essen – ich kenne begeisterte Spieler*innen, die keine zehn Pferde nach Essen bringen würden, weil es ihnen einfach zu voll und zu laut ist und sie das nicht genießen könnten. Das ist ok so, man kann nicht allen Leuten gefallen. Wenn eine Mehrzahl zufrieden ist, hat man schon viel erreicht.
Die mit großem Vorsprung schärfste Kritik an der Messe habe ich von den ausländischen Autor*innen gehört, die sich einen Platz in der Prototypengalerie gekauft hatten. Das war nicht ganz billig. Der entsprechende Bereich war dann weder für das Publikum noch für die Presse zugänglich (und konnte auch von den Autor*innen nicht zugänglich gemacht werden), und es herrschte gähnende Leere. Im Wesentlichen bestand das Paket darin, auf einer Liste zu stehen und einen eigenen Discord-Kanal zu haben. Da war aber absolut nichts los, da vermutlich viele Verlage davon gar nichts wussten (und ich weiß auch nicht, wie einfach der Zugang für sie war, es gibt Berichte, dass die Links zu den einzelnen Spielen nicht funktioniert haben). Ein Terminvereinbarungssystem gab es nicht, wer mit einem Verlag Kontakt aufnehmen wollte, musste eine E-Mail schreiben (und sich die Adresse erstmal selbst raussuchen, da gab es in vielen Fällen keine Kontaktdaten) und auf eine Antwort hoffen. Aber das kann man halt zu anderen Zeiten auch machen. Der Versuch, sich angesichts der knappen Zeit für nach der Messe zu verabreden, scheiterte daran, dass der Businessbereich halt mit Messeschluss vom Netz genommen wurde, und damit auch das, was die Autor*innen zur Präsentation vorbereitet hatten (zum Teil mit viel Aufwand). Schließlich hörte ich, dass das Help Desk erst nach Stunden Fragen beantwortet hätte (das kann ich nicht aus eigener Erfahrung bestätigen; das eine Mal, das ich eine Mail an den Merz-Verlag geschrieben hatte, kam die Antwort prompt). Einige Autor*innen waren zufriedener als andere, weil sie erfolgreich Kontakt aufnehmen konnten, aber ich habe bisher niemanden gefunden, der sein Geld gut angelegt sah. Weder diejenigen, die gern ihre Prototypen mit Publikum ausprobiert hätten, noch diejenigen, die mit Verlagen sprechen wollten, haben bekommen, was sie wollten, und da wird die Diskussion derzeit von herber Enttäuschung und beißender Kritik dominiert. Das ist natürlich sehr schade, insbesondere, da der Zugang erheblich teurer war als die ganz normale Eintrittskarte, mit der man das auf der Messe in Essen besser haben kann. Außerdem waren diverse der Autor*innen zuvor bei anderen Veranstaltungen gewesen und beschrieben diese einhellig als besser organisiert und billiger. Hier besteht sicherlich noch erheblicher Diskussionsbedarf.
Aber genug gemeckert. Was fand ich toll?
- Dass die Messe rund um die Uhr stattgefunden hat, war super. Natürlich nicht, weil ich gern von morgens um acht bis nachts um zwei am Rechner hängen möchte, sondern weil, anders als in Essen, Pausen normal waren. Essenspausen, Spielpausen zu Hause, Kinder ins Bett bringen und dann abends ab halb elf mit einer Gruppe Amis noch ein schönes Spiel auf Tabletopia zocken (und dann noch die Ankündigung des Autors zu hören, er werde die ganze Nacht dort sein). Auch das Ende am Sonntag fand ich lustig. Ich hab ja etliche Jahre als Erklärer in Essen gearbeitet, und das Rausschmeißen derjenigen, die dachten, der Messeschluss sei für andere Leute da, war manchmal etwas anstrengend. Diesmal war es eher so, dass die Erklärer*innen sagen konnten: Wir gehen jetzt mal, macht bitte nachher das Licht aus, wenn Ihr fertig seid. Ich hab ehrlich gesagt gar nicht mitgekriegt, wann genau es zu Ende war. Und einige Verlage lassen ihre Discord-Kanäle auch nach der Messe noch offen, da ist ja zum Teil jetzt noch was los.
- Schön war es, dass ich Leuten zufällig oder gezielt über den Weg gelaufen bin und wir uns dann unkompliziert unterhalten konnten. So konnte ich ein bisschen Kontaktpflege betreiben und auch neue Leute kennen lernen. Das ist für mich eigentlich der wichtigste Teil an einem Essenbesuch, und auch wenn ich insgesamt viel weniger Menschen begegnet bin als sonst, gehe ich in dieser Beziehung mit einem guten Gefühl und ein paar netten Verabredungen für später raus. Sonst verabschiedet man sich in Essen ja meist mit einem „Bis nächstes Jahr!“ Wo man eh schon digital miteinander gespielt hat, kann man sich auch im November noch mal treffen.
- Meine Zehnjährige, die noch nie in Essen war, wollte unbedingt auch mal was spielen. Sie hat dann mit Rob Fisher, einem der Autoren, bei Helvetiq Kompromat gespielt, begleitet von einer deutschsprachigen Erklärerin. Sie hat das sehr genossen (und ich war nebenbei etwas neidisch, wie unglaublich schnell sie sich an Tabletopia gewöhnt hatte). Familien mit Kindern waren ja insgesamt ein bisschen außen vor, weil vieles einen eigenen Rechner erfordert hat und auch nur vergleichsweise wenige Sachen für Kinder angeboten wurden (soweit ich es mitgekriegt habe), aber als es drauf ankam, war auch für meine Tochter was da. Darüber habe ich mich sehr gefreut.
- Es waren eine Menge Leute aus der ganzen Welt dabei, die sonst nie nach Essen kommen konnten, und man ist denen auch begegnet. Das war natürlich gerade für Leute wie mich ein echtes Highlight. Ich habe mehrfach gehört, wie sehr diese Menschen sich gefreut haben, teilhaben zu können. Und zwischendurch ploppte dann auch mal ein bekannter Name in dem Discord-Kanal auf, wo man selbst gerade war, und man konnte sein „Wiedersehen“ ein bisschen feiern. Nicht ganz so wie in Essen, aber die Freude war manchmal ähnlich.
- Die brasilianische Präsenz in Essen war für mich natürlich spannend. Ich konnte kurz mit Cecília Dante vom Brazilian Pavilion sprechen und werde das hoffentlich nach der Messe auch noch mal ausführlicher tun. So erfuhr ich, dass der ersatzlose Wegfall von Diversão Offline, der größten Spieleveranstaltung in Lateinamerika, zur Idee beigetragen hatte, das Ganze einfach zur Spiel Digital zu verlegen. Das Programm richtete sich dann auch vor allem an ein brasilianisches Publikum, obwohl natürlich auch internationale Besucher*innen willkommen waren (gelegentlich hörte ich, dass manche Stände niemanden mit Englischkenntnissen hatten, aber selbst habe ich das nicht erlebt). Also sozusagen eine kleine Parallelmesse innerhalb der großen Spiel Digital. Das nenne ich mal als positives Beispiel für Leute, die eher die Chancen einer digitalen Messe begreifen als über den Ausfall der Präsenzmesse zu meckern. Und die Hoffnung, dass wir nächstes Jahr tatsächlich einen brasilianischen Pavillon in Essen sehen, bleibt groß (trotz der Enttäuschung der vielen unabhängigen Autor*innen).
- Im Mittelpunkt stand für mich aber letztlich die Mitarbeit beim Radioprogramm der Spiel Digital, das vom Beeple-Netzwerk gestaltet wurde. Das war für mich ja ziemliches Neuland und auch ein ganz schöner Aufwand, aber es hat nicht nur Spaß gemacht, sondern es gab auch ne Menge Lob, über das wir uns natürlich sehr gefreut haben. Ich glaube, auch die anderen Medienkanäle, wie insbesondere der Video-Stream, sind gut angekommen. Ich habe da nur kurz reingeguckt, weil ich nicht so der Video-Typ bin. Aber ich glaube, dass diese verschiedenen Kanäle (die es ja auch in mehreren anderen Sprachen gab) ein bisschen Gemeinschaftsgefühl geschaffen haben, das man sonst auf dieser Messe wahrscheinlich vermisst hätte. Sämtliche vorproduzierten Sendungen unseres Programms könnt Ihr übrigens hier nachhören. Selbst beteiligt war ich neben einigen Live-Sendungen bei den Gesprächen über Taiwan Boardgame Design und über einige brasilianische Verlage.
Und jetzt? Nach der Messe ist vor der Messe. Natürlich wünsche ich mir, wie die meisten von uns, dass wir uns nächstes Jahr alle wieder in Essen treffen können, und natürlich werde ich vorsorglich Urlaub für diese Zeit einreichen. Aber bislang steht in den Sternen, ob die Messe normal stattfinden kann. Falls nicht, werde ich eine mögliche Spiel Digital 2021 wieder genießen, insbesondere, wenn die Schwächen der Erstausgabe noch ausgebessert werden. Nur werde ich irgendwo einen zusätzlichen Computer für meine Tochter organisieren müssen, damit sie auch eigenständig dabei sein kann.
Und wenn wir doch wieder alle nach Essen pilgern können? Dann wünsche ich mir, dass neben dem Normalbetrieb einige der Möglichkeiten, die eine digitale Messe bietet, integriert werden. Das war ja offenbar ohnehin schon länger geplant, und vielleicht geben die Erfahrungen aus der Spiel Digital dem einen Schub, wenn alle Beteiligten wieder bereit sind, sich auf ein paar Experimente einzulassen.
Bis dahin: Danke an alle, die sich für die Spiel Digital ins Zeug gelegt haben, in welcher Funktion auch immer.
Eine kleine Einschätzung der Spiele, die ich auf Tabletopia ausprobiert habe, liefere ich in den nächsten Tagen (Update: hier), sonst wird diese Bleiwüste hier einfach zu lang. Bis denne!
