Wer ab und zu dieses Blog ansteuert, weiß schon von meinem Faible für Spiele, die mit ganz simplen Regeln großen Spielspaß bereiten. Andererseits habe ich in meinem Leben Tausende von Spielen gespielt, und mit der Zeit passiert es immer öfter, dass mir Sachen wenig innovativ vorkommen. Das ist nicht so richtig tragisch, wenn sie trotzdem Spaß machen, aber sie müssen dann eben in Konkurrenz treten mit den Spielen, die bei mir ein ähnliches Spielgefühl auslösen, denn beide muss ich in aller Regel nicht zu Hause herumstehen haben. Wenn aber ein Spiel mit simplen Regeln daherkommt, das bei mir ein ganz neues Spielgefühl auslöst, dann bin ich schnell ein bisschen verliebt. So wie in das kooperative Kartenspiel The Mind von Wolfgang Warsch, das wahrscheinlich aufsehenerregendste Spiel der diesjährigen Nürnberger Messe. Wolfgang Warsch hat das Kunststück fertiggebracht, in Nürnberg gleich mit vier Neuheiten vertreten zu sein. Das schaffen normalerweise nur die ganz etablierten Autor/innen, während Warsch zuvor noch nicht so im Rampenlicht gestanden hatte.
Worum geht’s?
Das Spiel besteht vor allem aus einem Kartensatz mit den Karten von 1 bis 100. Im ersten Level bekommt jede/r eine Karte. Nun müssen die Karten nach Größe sortiert auf den Tisch gelegt werden, beginnend mit der kleinsten Karte. Was das Problem daran ist, Karten in der richtigen Reihenfolge abzulegen? Ganz einfach: Man darf über seine Handkarten in keiner Weise sprechen. Man muss einfach verstehen, wann die eigene Karte dran ist. Hat man die Karten in aufsteigender Reihenfolge abgelegt, ist der Level geschafft und der zweite beginnt – da hat dann jede/r zwei Karten, im dritten drei, und so weiter. Je nach Zahl der Spielenden soll für den Sieg ein bestimmter Level erreicht werden; bei zwei Spieler/innen zum Beispiel 12, bei mehr Leuten etwas weniger. Spielt jemand eine falsche Karte, verliert die Gruppe ein Leben, bei Verlust des letzten Lebens ist die Gruppe gescheitert. Außerdem gibt es noch Wurfsternkarten, mit denen man vereinbaren kann, dass jede/r die niedrigste eigene Karte abwirft. Beim Bewältigen einiger Level gibt es zur Belohnung neue Leben oder neue Wurfsterne.
Und? Macht das Spaß?
Eine solch knisternde Spannung habe ich schon lange bei keinem Spiel mehr erlebt. Wer jetzt glaubt, das könne nicht funktionieren, soll das bitte einfach mal ausprobieren, es funktioniert nämlich bestens. Die Zahl der Leben und der Wurfsternkarten ist genau richtig bemessen, sodass man schon in den ersten Partien diverse Level schafft und dann trotzdem immer wieder versucht, beim nächsten Mal noch besser zu werden. Wenn man es schafft, mit einer total simplen Grundidee ein gutes Spiel zu erfinden, kommt ja noch eine längere Entwicklungszeit hinzu, in der man genau austarieren muss, wieviele Level, wieviele Leben und wieviele Wurfsterne man braucht, um ein wirklich gelungenes Spiel zu haben. In The Mind passt das aber einfach alles.
Etwas zu meckern habe ich allenfalls an der seltsamen Gestaltung. Was sollen diese martialischen Wurfsterne? Der Klappentext ist ganz abtörnend, und die nicht spielrelevanten Namen der Level („Verschmelzung von Geist und Materie“, „Metaphysische Harmonie“ und so weiter) finde ich auch reichlich schräg. Die hätte ich einfach weggelassen, aber wie gesagt, das hat auf das Spiel selbst keinerlei Einfluss. Der ganze Klimbim um die telepathischen Absprachen ist natürlich sowieso hanebüchener Unsinn, denn an The Mind ist nichts übernatürlich. Das gehört einfach nur zum Image, das das Spiel bekommen hat. Zu Beginn etwa legen alle Spieler/innen eine Hand auf den Tisch, um sich „gemeinschaftlich zu konzentrieren“. In meinen Augen geht es bei diesem in der Tat wichtigen Moment in Wirklichkeit darum, ein gemeinsames Startsignal zu haben, damit man weiß, wie lange man schon auf die erste Karte wartet. Beim Spielen selbst ist dann auch eher weniger Telepathie gefragt als das Lesen der Gesichter der anderen und das richtige Einschätzen ihres Zögerns. Das kann sich auf ganz verschiedene Weise äußern. Der eine lehnt sich demonstrativ zurück, um zu zeigen, dass er nur noch ganz hohe Karten auf der Hand hat, die andere greift gaaanz langsam ins Blatt, was dann bedeuten soll, dass zwischen der aktuell ausliegenden Karte und der, die sie ausspielen will, eine mittelgroße Lücke ist. Natürlich funktioniert auch The Mind am besten, wenn man schon ein bisschen eingespielt ist oder die anderen Spieler/innen zumindest schon kennt. Für mich könnte das Spiel ebensogut The Gesichtsausdruck heißen, aber dann würde es sich wahrscheinlich nicht halb so gut verkaufen.
Übrigens verläuft eine Partie The Mind keineswegs in völliger Stille. Man sagt immer mal was, freut sich auch lautstark darüber, wenn 21, 22 und 23 in der richtigen Reihenfolge abgelegt wurden – nur die Preisgabe irgendwelcher Informationen über das eigene Blatt ist tabu. Eine Alphaspieler/innen-Problematik gibt es auch nicht – niemand kann den anderen wirklich sagen, was sie tun sollten, und bei einem Fehler ist auch niemand allein schuld (auch wenn es da manchmal durchaus Diskussionen geben kann). Ein ganz großer Pluspunkt für ein kooperatives Spiel. Sollte man mal zu viel quatschen oder zwischendurch im Nachbarhaus der Blitz einschlagen, kann man jederzeit wieder die Hand auf den Tisch legen, um wieder eine Ausgangskonzentration herzustellen. Es ist also kein angestrengtes Schweigen, sondern ein gespanntes. In die Kategorie Partyspiel gehört The Mind trotzdem nicht, es ist schon meist relativ ruhig.
The Mind ist verschiedentlich mit The Game verglichen worden. Klar, Karten von 1 bis 100, die gemeinschaftlich der Größe nach sortiert werden sollen, Nürnberger Spielkartenverlag – da liegt die Assoziation nahe. Für mich ist das Spielgefühl allerdings radikal anders. The Game ist viel taktischer und es geht um geschicktes Planen und Zurückhalten. The Mind ist ein Psychospiel. Wer sowas mag, wird es lieben, andere vielleicht entsetzt flüchten. Aber ich bleibe dabei: The Mind ist ein sensationelles Spiel, und ich müsste mich unheimlich wundern, wenn es nicht auf der Kandidatenliste zum Spiel des Jahres 2018 landen würde.
The Mind
für 2 bis 4 Personen (wir haben es auch schon zu fünft gespielt, das hat auch leidlich funktioniert. Ist aber schwer!)
von Wolfgang Warsch
Illlustriert von Oliver Freudenreich
Nürnberger Spielkartenverlag, 2018