In meinem Hauptberuf arbeite ich als Deutschlehrer für Erwachsene an einer kleinen Sprachschule. Gelegentlich veranstalten wir für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Rahmen des Freizeitprogramms auch Spielenachmittage. Da kommt dann ein Grüppchen von Leuten aus allen Möglichen Weltgegenden zum Spielen zusammen. Die meisten haben weniger Erfahrung mit modernen Spielen, aber da das Spielen zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehört, finden wir da meist schnell zusammen und es kann sehr lustig werden. Ich genieße es jedes Mal, wenn ich mit so verschiedenen Leuten spielen kann, und wenn ich dann zum Beispiel jemandem aus Japan ein japanisches Spiel vorsetzen und ihm oder ihr damit zeigen kann, dass es auch dort eine lebendige Spieleszene gab, ist das immer ein besonderes Schmankerl. Das habe ich immer im Auge behalten, wenn ich die Spiele für so einen Spielenachmittag zusammengesucht habe.
Als ich dann vor rund anderthalb Jahren mit diesem Blog anfing, wollte ich über etwas schreiben, was nicht schon völlig ausgelutscht war und suchte mir meine geliebten Spiele aus Asien aus. Meine Nische war gefunden und ich konnte mich austoben – und die geneigte Leser/innenschaft wusste das auch zu schätzen. Ein Jahr später ergaben sich dann plötzlich die Kontakte nach Lateinamerika, und ehe ich mich’s versah, hatte ich ein neues Spezialgebiet. Dabei war es nicht nur so, dass ich die Spiele aus fernen Ländern gut fand, sondern ich fand es auch spannend, zu erfahren, wie dort letztlich Neuland betreten wird, denn in Deutschland waren das Spielen und auch die Spieleindustrie schon so lange etabliert, dass man es leicht als selbstverständlich ansehen konnte.
Ganz anders war das in anderen Weltgegenden. In Japan zum Beispiel war die Entwicklung des Tokyo Game Markets offenbar von der Comic-Szene inspiriert. Als ich vor gut 15 Jahren in Taiwan wohnte, war dort noch tote Hose in Sachen Spiele – und als ich zuletzt dort war, konnte ich von einem Spielecafé zum nächsten wandern und eine lebendige Szene erleben. In Argentinien nahmen ein paar Leute es in die Hand, die Qualität von einheimischen Spielen zu verbessern. Und in Afrika? Darüber wusste ich so gut wie nichts, außer dass ich mal von einem Spielefest in Uganda erfahren hatte (und auch früher dank persönlicher Kontakte mitbekommen hatte, dass es in Uganda einige Importspiele zu kaufen gab). Aber was war mit Spielen, die aus Afrika kommen, dort entwickelt und produziert wurden? Dass es da gar nichts geben sollte, wollte mir nicht in den Kopf.
Vor ein paar Wochen stieß ich dann zufällig im Netz auf Kenechukwu Ogbuagu, einen Spieleautoren aus Abuja in Nigeria. Der hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine Spiele in Nigeria produzieren zu lassen und dann auch zu vertreiben. Nun schießen ja in Deutschland und vielen anderen Ländern alle Nase lang Spieleverlage aus dem Boden, manche mit mehr, manche mit weniger Erfolg. Aber diese können sich, unabhängig von ihrem sonstigen Geschäftsmodell, auf einschlägige Produktionsstätten verlassen und sind nicht gezwungen, diese auch noch aufzubauen. Wie kann da jemand in einem Land, das nicht eben für seine große Spieleindustrie bekannt ist, so etwas aufziehen?
Nun, KC (so sein Kurzname) hat es vorgemacht. Bis auf die in China produzierten Spezialwürfel sind alle Spielbestandteile aus nigerianischer Produktion. Bisher sind fünf Spiele erschienen, teilweise in normalen Schachteln, teilweise in einer Art Blisterpackungen, um die Kosten niedrig zu halten.
Von den Spielen sind in den fünf Monaten seit dem Start immerhin schon ein paar tausend Stück verkauft worden, zum Teil über Großhändler, zum Teil im Direktvertrieb über das Netz. Und auch andere Sachen, die für uns schon fast selbstverständlich geworden sind, entstehen in Nigeria: Zum Beispiel gab es letztes Jahr den ABCon (African Boardgame Convention), einen (für hiesige Verhältnisse) kleinen Con, der aber auch in diesem Jahr wieder stattfinden soll und ja noch wachsen kann. Der Boden ist also bereitet, es gibt einheimische Spiele, die auch im Handel zu kriegen sind, ein Spieletreffen und einiges an Aufmerksamkeit. Vielleicht löst das ja irgendwann auch noch mehr aus und andere Leute fangen ebenfalls an, Spiele zu entwickeln (zu einer lebendigen Spieleszene gehört natürlich letztlich mehr als ein Spieleverlag. Aber der Anfang ist gemacht).
Ein paar Worte zu den Spielen selbst: KC hat Spiele zu Themen entwickelt, die die Leute in Nigeria ansprechen sollen. Wikinger oder burgundische Burgen findet Ihr hier also nicht, es geht um Hütten, Tierzucht oder eine Reise durch Nigeria. Auch ein Mathematikspiel ist im Angebot, und einige der Spiele stellen sich selbst als Lernspiele vor. Die Namen, zum Beispiel MGBAKO, IRIN AJO oder CHIYAWA wirken auf mich exotisch, aber das haben DVONN oder Jenga schließlich auch mal getan. Ich habe KC gefragt, wie man überhaupt in einem Land mit so vielen Sprachen wie Nigeria Regeln produzieren kann – Englisch als Verkehrssprache ist dafür offenbar ausreichend, aber er hat bei der Namensgebung auf verschiedene einheimische Sprachen zurückgegriffen. IRIN AJO heißt zum Beispiel „Reise“ auf Yoruba. Das mag in Nigeria zur Identifizierung mit den Spielen beitragen.
Also insgesamt ein tolles Projekt, dem ich nur alles Gute wünschen kann. Aber das für mich Interessanteste habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Auf KCs Facebookseite sah ich nämlich einen Artikel aus einem Lokalmagazin namens The Voice, in dem er seine Motivation darlegte. Und da merkte ich, dass sich etwas fundamental von der Motivation deutscher Autor/innen oder auch Verlagsgründer/innen unterschied und mir wurde vor Augen geführt, dass es zwar eine weltweite Begeisterung für Spiele gibt, die Gründe für das Veröffentlichen von Spielen aber reichlich verschieden sein können.
Ich zitiere mal:
„Es geht um Brettspiele und die bisherige Reise und darum, dass es zu vielen Jobs hier für Leute führen könnte, sowohl für die gut Gebildeten als auch für diejenigen, die nicht zur Schule gegangen sind.
[…]
Stellt Euch mal etwas vor: Stellt Euch nur ein Brettspiel vor, dass Herr A. entwickelt. Eine andere Person erstellt die Grafik. Eine weitere Person druckt. Eine weitere Person verpackt. Eine weitere Person vertreibt. Eine weitere Person macht Werbung. Eine weitere Person kümmert sich um die Produktion von Videos. Eine weitere Person verkauft. […] Eine weitere Person kann damit anfangen, eine App zu entwickeln. Eine weitere Person macht eine Webseite für das Spiel. Eine weitere Person kann sogar ein Spielecafé eröffnen, wo Leute hinkommen und trinken und spielen können.
Von nur einem einzigen Spiel werden viele Leute profitieren und ihre eigenen Chefs werden. Unternehmer! Ich schwöre es, es ist sehr wichtig, dass wir diese Industrie aufbauen. Ich schwöre es!
Erstens wird es mehr Jobs für Leute schaffen.
Zweitens wird es Leuten helfen, ein oder zwei Dinge zu lernen. Ihr könnte es sogar nutzen, um Kinder in Schulen und außerhalb von Schulen zu unterrichten.
Drittens werden Leute Spaß daran haben, Spiele zu spielen, die in Nigeria gemacht wurden und in denen unsere Geschichten und Legenden vorkommen.“
(Übersetzung von mir).
Während die treibende Motivation nach außen bei Deutschen meist sein dürfte, eine tolle eigene Spielidee auf den Markt zu bringen (wenn sich schon kein Verlag dafür interessieren mag), andere vielleicht gar glauben, ein größeres Stück vom finanziellen Kuchen abzubekommen, wenn sie nicht am Tropf eines Verlages hängen, war die Argumentation von KC eine ganz andere: Eine einheimische Spieleproduktion kurbelt die Wirtschaft an. Jetzt nennt mir mal irgendwen aus der Szene in Deutschland, der oder die sich auch nur schon mal Gedanken darüber gemacht hat…
Ganz ehrlich, ich finde das wunderbar. Nicht nur, weil es mir eine neue Denkweise erschließt, und nicht nur, weil ich es es immer lobenswert finde, die Allgemeinheit im Blick zu haben. Sondern vor allem auch, weil es zeigt, wie vielfältig wir Spielefreaks bei allen Gemeinsamkeiten sind und dass es immer wieder etwas Neues zu entdecken geben wird.
Bilder mit freundlicher Genehmigung von NIBCARD Games.