In einem meiner meiner Lieblingsbücher über die deutsche Sprache stieß ich neulich mal wieder auf einen kurzen Text von Manfred Bosch. Ich zitiere mal:
Also, das ist so: Du ziehst hier los, und mit jedem Auge, das du gewürfelt hast, rückst du um ein Feld weiter vor. Auf den Feldern sind bezeichnete Objekte, die du kaufen kannst, wenn du willst. Am besten, du suchst immer eine ganze Straße zu kaufen, dann kannst du darauf bauen, hier, diese grünen und roten Häuschen. Die Preise stehen auf den Kärtchen, die dir die Bank gibt, wenn du sie kaufen willst. Wenn dann einer auf dein Feld kommt, muß er Miete zahlen, und zwar um so mehr, je größer du gebaut hast. Was also in die einzelnen Häuser reingesteckt wird, zahlt sich unbedingt aus. Andererseits, wenn du auf das Feld eines anderen gerätst, mußt du zahlen. Verstehst du? Du mußt also versuchen, den anderen fertigzumachen und ihm die ganzen Häuser vor der Nase wegzukaufen. Wenn du auf ein Feld kommst, auf dem „Ereignisfeld“ steht, nimmst du von dem Haufen in der Mitte eine Karte ab und liest sie laut vor. Da ist dann immer irgendetwas los. Das wirst du ja noch sehen. Und dann gibt es noch ein Feld, auf dem steht ‘Gemeinschaftsfach’. Dann nimmst du halt dort eine Karte weg, aber das ist nicht so wichtig. Jetzt bist du dran, los, würfle! ¹
Was hier einfach einigermaßen amüsant klingen mag, zeigt für Spieler/innen durchaus ein relevantes Problem auf: Wie sollten Spielregeln eigentlich aussehen? Gibt es da überhaupt einen Königsweg? Auf ein „so wie im Beispiel oben besser nicht“ können wir uns wahrscheinlich schnell einigen. Aber was ist eigentlich das Problem in dem Text von Manfred Bosch (der wenig überraschend „Monopoly. Eine Spielbeschreibung“ heißt)? Es ist ja nicht im eigentlichen Sinne etwas falsch. Wenn die Mitspieler/innen das Spiel kennen und den Neuling ein wenig beraten, funktioniert eine solche Anleitung womöglich sogar – nur führt eine Teilnahme am Spiel nach solch einer Anleitung wahrscheinlich nicht wirklich zu einem befriedigenden Spielerlebnis.
Eigentlich ist die Sache ganz einfach: Es fehlt ein Ziel. Warum sollte jemand all diese beschriebenen Dinge tun? Weil die Anleitung es sagt? Das Spielziel steht doch unbedingt im Vordergrund. Oder, um Reiner Knizia zu zitieren: „Remember: When playing a game, the goal is to win, but it is the goal that is important, not the winning…“ Was zuerst paradox klingen mag, ist eine sehr intelligente Beobachtung. Ein Spiel funktioniert nur, wenn alle das Spielziel verfolgen. Wenn jemand nur so vor sich hinspielt und die anderen Spieler/innen ignoriert oder sinnlos sabotiert, kann das Spielerlebnis schnell kaputt gehen. Man muss zwar nicht gewinnen (das tut ja in der Regel nur eine/r), aber man muss gewinnen wollen.
Nebenbei stieß ich auf eine wissenschaftliche Untersuchung der Textsorte „Spielanleitung“ von Simone Grossmann, die darin ebenfalls Manfred Bosch zitiert (wenngleich nicht ganz korrekt). Ihre Arbeit ist voller Fachvokabular, das für Leute, die mehr an Spielen als an Linguistik interessiert sind, wahrscheinlich eher schwierig zu verstehen ist. Noch stärker fällt allerdings für mich ins Gewicht, dass sie sich auf die blanke Theorie beschränkt. Sie beschreibt also, wie sich Manfred Boschs Text formal von einigen von ihr untersuchten tatsächlichen Spielanleitungen unterscheidet, lässt dabei aber außer Acht, welche Art der Anleitung in einer realen Situation tatsächlich besser funktioniert. Und obwohl sie zugibt, dass sie viel zu wenig Spielanleitungen zum Vergleich herangezogen hat, war ihre Auswahl schon bei Erscheinen ihres Artikels im Jahre 2002 rettungslos veraltet: Nobody is Perfect war zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Jahre alt, alle anderen zitierten Spiele nochmal zumindest ein weiteres Jahrzehnt (nebenbei führt sie seltsamerweise nicht auf, aus welchen Ausgaben ihre Zitate stammen). Aus einer heutigen Perspektive wirkt das schon sehr antiquiert. Vielleicht sollten wir uns aber auch einfach nur freuen, dass die Anleitungen seit ihrer Untersuchung so viel besser geworden sind?
Und in der Tat, in den untersuchten Anleitungen fehlt in fast allen Fällen das einleitend genannte Spielziel. Und mal ganz ehrlich – wann habt Ihr das letzte Mal ernsthaft eine Spielanleitung in der Hand gehabt, in der das fehlte? Das ist schon extrem selten geworden. War das zu der Zeit, als Bosch seine Monopoly-Beschreibung schrieb (1975), tatsächlich so normal? Auch die heute verfügbare Anleitung von Monopoly erklärt zuerst das Spielziel.
Eine weitere Bemerkung bei Grossmann legt ohnehin eine nur sehr oberflächliche Beschäftigung mit Spielen nahe (es geht dabei um eine Spielanleitung in einem Deutsch-Lehrwerk): „Die Anregung zur selbständigen Erweiterung des Spiels, die dem eigentlichen Anleitungsteil nachgestellt ist, wirkt nicht inadäquat, obwohl sie in einer authentischen Spielanleitung nicht vorkäme, da Erfinder von Spielen gerade auf ihre exklusive Rolle angewiesen sind.“ Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Spielen, die zum Erweitern und Verändern von Regeln auffordern. Ein besonders bekanntes Beispiel ist die Würfelpyramide „Spiel“ von Reinhold Wittig, die es auch schon seit 1980 gibt. Und heutzutage ist das Internet voll mit offiziellen, halboffiziellen und völlig inoffiziellen Varianten zu Spielen (das mag 2002 noch nicht absehbar gewesen sein).
Schließlich noch: Alle von Grossmann untersuchten Spiele haben meiner Erfahrung nach eins gemeinsam: Sie sind soweit traditionelle Spiele geworden, dass kaum noch jemand die Anleitung von vorne bis hinten liest. Jede/r geht davon aus, die Regeln zu kennen, was beispielsweise bei Monopoly dazu geführt hat, dass es kaum noch jemand nach den Originalregeln zu spielen scheint. Kommt jemand Neues dazu, erklärt es jemand anders aus dem Gedächtnis. Sozusagen wie bei Manfred Bosch (nur hoffentlich etwas übersichtlicher und mit einer Erwähnung des Spielziels). Ich erinnere mich noch, dass ich als Kind in Kartenspielen gelegentlich Skatregeln fand. Diese waren nie vollständig, sondern nur als Erinnerungshilfen gedacht, denn man ging offenbar davon aus, dass die eigentlichen Spielmechanismen ohnehin bekannt seien (ich bin dann konsequenterweise kein sehr guter Skatspieler geworden ;-)).
Das ist bei neuen Spielen anders, und in einer Zeit, wo tausend Neuerscheinungen im Jahr auf die Spielewelt einprasseln, kommt es wirklich vor, dass Spieler/innen zusammen eine Regel lesen. Aber auch hier gilt: Einfacher ist es, wenn es jemand aus der Runde schon kennt und erklären kann. Deshalb heuern die größeren Verlage für die Messe in Essen eine Menge Leute an, nur um Spiele zu erklären. Und wer einen Spieleabend plant und schon weiß, was gespielt werden soll, ist gut beraten, die Regeln vorher zu lesen und nicht erst, wenn die Gäste ungeduldig am Tisch sitzen. Hier hat Grossmann nun wieder einen Volltreffer gelandet, als sie formuliert, dass „einige Rezipienten für Freizeitbeschäftigungen möglicherweise nur eine eingeschränkte Konzentrationsbereitschaft aufbringen“. So ist es.
¹Manfred Bosch: Monopoly. Eine Spielanleitung Erschienen in: Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.): Menschengeschichten, Beltz Verlag 1975. Zitiert nach Wolfgang Rug/Andreas Tomaszewsk: Grammatik mit Sinn und Verstand, Klett 2001.