… muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. So sang einst Reinhard Mey, und so sah es offenbar auch Andrew Miller und nahm sich sehr viele Freiheiten bei der Erschaffung seines Spiels The Cloud Dungeon (Das Wolkenverlies).
Wie wahrscheinlich eine Menge anderer Leute hier habe ich in meiner Jugend gelegentlich so Solo-Abenteuer-Bücher gelesen, wo man hier und da Entscheidungen trifft, die einen dann auf eine bestimmte andere Seite führen, sodass man gegebenenfalls immer wieder eine andere Geschichte erleben kann. Weil diese Art von „Choose your own Adventure“-Büchern in letzter Zeit wieder populärer zu werden scheinen, hatte ich mir vor ein paar Monaten mal zwei davon bestellt. Nachdem ich das erste durchgespielt hatte, war ich doch arg ernüchtert – das war stinklangweilig, atmosphäre- und spannungsfrei. Von sowas wie sprachlicher Finesse konnte erst recht keine Rede sein. Die Vorstellung, das dann noch mal anzufangen, um eine andere Variante der Geschichte zu erleben, lag mir fern. Das zweite habe ich noch gar nicht ausprobiert und bin auch nicht mehr so sehr sicher, ob ich das überhaupt tun sollte.
Allerdings hatte ich bei einer Verlosung zufällig ein Abenteuerbuch namens The Cloud Dungeon gewonnen, das sehr gelobt worden war. Gruppengeeignet, keine langweiligen Fantasybilder auf dem Cover, hinten drauf so seltsame Ausschneideteile… meine Neugier war geweckt, und irgendwann verkaufte ich das Ganze dann meiner Familie als „so eine Art Rollenspiel“ und kriegte sie tatsächlich dazu, sich mal drauf einzulassen (angesichts der Tatsache, dass wir uns öfter mal lange nicht drauf einigen können, was wir spielen sollen, ein freudiges Ereignis). Plötzlich fühlte ich mich aber auch etwas unter Druck gesetzt, jetzt was Cooles liefern zu müssen. Zum Glück leistete das Buch das im Wesentlichen für mich.

Worum geht’s?
Die Spieler*innen wählen entweder eine der vorgegebenen Rollen aus oder basteln sich eine eigene. So eine Rolle besteht aus einer knappen halben A4-Seite mit einem Bild und ein paar Zahlen drauf. Außerdem wählt man noch ein paar mehr oder weniger nutzlos wirkende Dinge aus, die man gern mitnehmen möchte. Mitnehmen heißt in diesem Fall, dass man sie aus dem Buch ausschneidet und auf seinen Charakterbogen klebt. Wir haben das mit dem Kleben nicht so ernst genommen und das Zeug einfach draufgelegt. Das könnt Ihr aber halten, wie Ihr lustig seid, denn wie in der Kurzanleitung angemerkt, steht der Spielspaß über dem peniblen Befolgen der Regeln. Anschließend schlägt man die erste Seite der eigentlichen Geschichte auf und wird dann Seite für Seite hindurchgeführt. Gelegentlich trifft man Entscheidungen, entweder allein oder in der Gruppe. Anschließend blättert man um und kriegt die Auswirkung mitgeteilt. Oder aber man gerät in einem Kampf oder sonstige Situation und muss mit zwei sechsseitigen Würfeln würfeln und unter einem bestimmten Wert seines Charakters bleiben. Wiederum bekommt man dann mitgeteilt, wie sich Erfolg beziehungsweise Fehlschlag auf die Geschichte auswirken. Und immer wieder gewinnt oder verliert man Dinge, die man sich aus dem Buch ausschneiden kann, oder man verliert Gesundheit (und reißt dafür solche Herzpunkte am Rand seiner Figur ab). Soviel zum Ablauf.

Inhaltlich geht es darum, dass man sich in ein Wolkenverlies begibt, in dem sagenhafte Schätze verborgen sein sollen. Und dann kämpft oder wurschtelt man sich halt durch, bis man auf den großen Endgegner trifft und hofft, dem gewachsen zu sein. Mehr will ich hier nicht spoilern.

Und? Macht das Spaß?
The Cloud Dungeon lebt vor allem von seinem völlig schrägen Humor. Man sammelt immer mal wieder völlig absurde Dinge ein, von denen man keine Ahnung hat, ob man sie jemals brauchen wird. So stopft man seinen Charakterbogen voll, wobei die Figuren sich immer weiter individualisieren. Das ist große Klasse, wenn man’s mag. Ich erinnere mich mit Freuden daran, wie ich in den Neunzigern öfter mal zu NURD1 fuhr, wo jeweils ein genial schräges Live-Rollenspiel stattfand, bei dem wir uns mitten in der Nürnberger Innenstadt vollkommen zum Horst gemacht haben. Das traf genau meinen Humor. Oder auch an skurrile Computerspiele wie Super Hero League of Hoboken oder sowas – kennt das noch jemand? Jedenfalls muss man auch bei The Cloud Dungeon bereit sein, sich auf total bizarre Ideen einzulassen, die traditionelle Rollenspiele immer mal wieder etwas persiflieren.

Wer das mag, findet kaum was Besseres als dieses Buch. Man hatte fast das Gefühl, dass auch Andrew Miller von dem, was auf dem Markt war, gelangweilt war und es besser machen wollte. Er hat dann das Medium nahezu perfekt genutzt, und dabei kam dieses Legacy-Spielbuch heraus. Legacy nur im weiteren Sinne, denn auf seiner Webseite kann man sich die Verbrauchsteile auch herunterladen, wenn man sein Buch nicht zerschneiden möchte. Ich nehme an, dass das auch der Vorbesitzer meines Buches getan hatte.
Zurück zur Geschichte. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mich nach zweien der drei Kapitel fragte, wie die Geschichte wohl enden würde, ob es so ein einfaches „Hurra, Ihr habt gewonnen“ geben würde oder einen wirklichen Höhepunkt. Und ich kann Euch sagen, meine Erwartungen sind deutlich übererfüllt worden, es war wunderbar verschroben und gleichzeitig befreiend.
Gibt es was zu meckern? Die Regeln, auch für das Basteln, sind nicht an jeder Stelle total klar. Das hat man aber schnell zusammenimprovisiert, also fällt das nicht so sehr ins Gewicht. Ansonsten fällt mir nichts weiter ein.
The Cloud Dungeon ist eine wunderbare und sehr humorvolle Einführung ins Rollenspielgenre, das besonders auch für das Spielen mit Kindern geeignet ist (ich habe für meine Kinder spontan aus dem Englischen übersetzt, eine deutsche Ausgabe gibt es leider nicht). Ich bin gar nicht sicher, ob meine Kinder (8 und 11) den Humor als so unheimlich ungewöhnlich empfunden haben, aber insbesondere meine jüngere Tochter hat die ganze Geschichte unheimlich genossen und es war eine tolle gemeinsame Spielerfahrung, die ich von ganzem Herzen weiterempfehlen möchte.
The Cloud Dungeon
für 2 bis 6 Leute
von Andrew Miller
Andhegames, 2015
1 Nürnbergs Ultimatives Rollenspiel-Desaster