Neue Spiele aus Lateinamerika, Juni 2018

Nachdem der letzte Artikel sehr umfangreich geworden ist, habe ich beschlossen, von nun an eine feste Rubrik „Neue Spiele aus Lateinamerika“ einzurichten (es ist ja doch immer viel Recherche dabei). Bis auf Weiteres ist jetzt der erste Montag im Monat dafür reserviert. Ob das gut klappt, wird sich zeigen, wahrscheinlich werden die Artikel sehr unterschiedlich lang werden, je nachdem, was mir so vor die Füße fällt. Da bin ich selbst gespannt. Aber jetzt fange ich erstmal so an.
Vorweg ein Hinweis darauf, dass ich eine Übersichtsseite über die lateinamerikanischen Verlage eingerichtet habe. Das war eine ziemliche Arbeit, aber wer zufällig nach Lateinamerika unterwegs sein sollte, kann sich ja die Verlage aus dem enstprechenden Land vorher mal genauer ansehen und überlegen, wonach es sich Ausschau zu halten lohnt. Ergänzungen und Korrekturen sind willkommen, wenn jemand noch was weiß, aber ich finde auch selbst ständig noch was.

Argentinien

Ich weiß nicht, ob das heute anders ist, aber in meiner Schulzeit in den Achtzigern war lateinamerikanische Geschichte noch nahezu kein Thema, schon gar nicht für die Zeit nach der spanischen Kolonialherrschaft. Wie schön ist es da, dass man von Brettspielen noch einiges lernen kann. Zum Beispiel, dass am 20. November 1845 eine gemeinsame britisch-französische Flotte versuchte, eine argentinische Blockade auf dem Paraná-Fluss zu durchbrechen, um offene Handelswege ins Hinterland zu erzwingen. Der Durchbruch gelang zwar am Ende, aber unter so hohen Verlusten, dass die Eindringlinge von weiteren solchen Versuchen Abstand nehmen mussten. Was in der deutschen Wahrnehmung allenfalls eine Fußnote der Geschichte ist, war von großer Bedeutung für Südamerika. Seit 2010 ist der 20. November in Argentinien ein Feiertag.
Woher ich das alles weiß? Ich habe es nachgelesen, nachdem ich auf das Spiel Soberanía (Souveränität) von Julian P. L. Bracco gestoßen bin, das er (mit Illustrationen von César Carrizo) in seinem Verlag EPICA JUEGOS herausgebracht hat. Soberanía ist eine kooperative historische Simulation, bei der die Spieler/innen gemeinsam gegen die Invasion ankämpfen.

Und kaum habe ich von diesem Spiel erfahren, legt das Verlagsteam noch einen nach: Soeben erschienen ist Cruce de los Andes (Überquerung der Anden). Darin geht es um den argentinischen Unabhängigkeitshelden José de San Martín und seine Kampagne zur Vertreibung der spanischen Kolonialtruppen aus Chile – davon wird auch im nächsten Artikel Anfang Juli noch mal die Rede sein. Das aktuelle Spiel trägt den Zusatz „Vol. 1: Gobernación“ (Teil 1: Regierung). Ein zweiter Teil ist in Vorbereitung. Cruce de los Andes besteht überwiegend aus Karten, mit denen man das Leben San Martíns nachspielen kann, enthält aber auch zwei ziemlich frei gehaltene Kurzrollenspiele von Benjamín Anibal Reyna und Martín Bravo.

Der Verlag Tinkuy hat wieder ein Literaturspiel herausgebracht, diesmal in Kooperation mit der chilenischen Autorin María José Ferrada. Darin geht es um Haikus, diese minimalistischen Gedichte im japanischen Stil. Invención de Haikus ist mal wieder nicht das, was Purist/innen sich unter einem Spiel vorstellen mögen, weil es einfach darum geht, Haikus zu erstellen – eine Punktewertung oder eine sonstige Gewinnbedingung gibt es nicht. Stattdessen zieht man Karten mit Jahreszeiten, Naturphänomene, Anfangsbuchstaben, Anfangs- oder Endversen und bastelt daraus Haikus. Ich selbst habe von Haikus keine Ahnung, lasse mich von derlei Aufgabenstellungen aber durchaus gern locken und würde das folglich auch mal probieren wollen. Aber bevor ich jetzt auf Spanisch mache, muss ich doch noch ein bisschen üben.

Brasilien

Schon vor zwei Jahren hat Eduardo Guerra sein Spiel Crop Rotation im Selbstverlag herausgebracht. Im März ist es nun in einer neuen Version bei Legião Jogos erschienen, und zwar unter dem Titel Crop Rotation: Bug Plague (auf Deutsch etwa: Fruchtfolge: Insektenplage). In diesem Landwirtschaftsspiel hat man Aufgabenkarten in der Hand, die eine bestimmte Anordnung der drei Feldfrüchte verlangen. Man pflanzt also etwas an und versucht, die entsprechende Anordnung hinzukriegen. Leider funken einem dabei gelegentlich die anderen dazwischen. Entscheidet man sich allerdings für den kooperativen Modus, greifen stattdessen Heuschrecken ins Geschehen ein. Das Spiel wurde von Jonatas Bermudes illustriert.

Ebenfalls bei Legião Jogos soll Eleições 20XX (Wahlen 20XX) erscheinen, das derzeit auf der brasilianischen Crowdfunding-Plattform catarse.me um Unterstützer/innen buhlt. Darin geht es um Wahlen in einem fiktiven Land, bei denen – natürlich ebenso fiktiv – Verleumdung, Machtmissbrauch und Stimmenkauf an der Tagesordnung sind. Das Spiel enthält Wähler/innenkarten mit bestimmten Präferenzen, und die Spieler/innen versuchen, die ihnen geneigten Wähler/innen in die richtige Richtung zu lenken und diejenigen, die ohnehin nicht für sie stimmen würde, vom Wählen abzuhalten. Das Spiel stammt aus der Feder von Bruno Carvalho und wurde von Rogério Narciso und Thiago Ramos illustriert.

Das im Selbstverlag angekündigte Vossa Excelência – O Jogo Político (Exzellenz) von Fernando Augusto C. Prado und Marcelo S. Dias wurde von Douglas Duarte illustriert und beschäftigt sich ebenfalls mit unsauberer Politik, und auch dieses Spiel ist derzeit auf catarse.me zu finden. In diesem Szenario sind die Spieler/innen bereits Abgeordnete und müssen versuchen, ihre Machtbasis bis zur nächsten Wahl zu konsolidieren. Ein wenig Machtmissbrauch ist dafür sehr geeignet. Leider gibt es aber ein paar nervige Kräfte innerhalb der Zivilgesellschaft, die ein Auge auf genau solche Abgeordnete haben und einem womöglich Knüppel zwischen die Beine werden könnten.
Zwei Crowdfunding-Kampagnen über schmutzige Politik auf einmal – in Brasilien liegt den Leuten offensichtlich einiges auf dem Herzen.

Spiele, die Uga-Uga Bufapum heißen, üben eine gewisse Faszination auf mich aus. Ich bin nicht sicher, ob ich etwas anderes empfunden hätte, wenn ich ernsthaft Portugiesisch könnte.
Was braucht man noch gleich, um der neue größte Boss eines Steinzeitstammes zu werden? Den größten Knüppel? Den schicksten Lendenschurz? Weit gefehlt – es geht vor allem darum, dass man am eindrucksvollsten furzen kann. Dazu spielt man  Karten mit kleinen bis katastrophalen Fürzen aus, und das natürlich in die ungefähre Richtung der Gegenspieler/innen. Wenn die in Ohnmacht fallen, ist der Nachfolgestreit geklärt. Ausgedacht hat sich das Ganze Mário Sérgio, die Illustrationen stammen von Victor Cavalcanti und der Verlag heißt K & M Jogos. Nette Notiz am Rand: Die portugiesischen Wörter für „Furz“ und „Wortspiel“ sind identisch, sodass ich bei meiner ersten Annäherung an das Spiel per Google Translate noch die Vermutung hatte, dass es hier um einen steinzeitlichen Kalauer-Wettbewerb handeln würde. Das wäre vielleicht auch mal eine Idee für ein Spiel.

Ebenfalls eine ungewöhnliche und vermutlich wesentlich besser duftende Geschichte erzählt Café Express von Kevin und Samanta Talarico. Nach dem Ausbruch einer schrecklichen Pflanzenkrankheit werden die letzten drei gesunden Kaffeebohnen mit einem gut bewachten Zug durch das Land transportiert, um sie in unbelasteter Erde wieder einzupflanzen und das Überleben der Spezies (Kaffeepflanze oder Mensch? Entscheidet Ihr) zu sichern. Da sind natürlich skrupellose Gangster nicht weit, die die kostbare Fracht an sich reißen wollen. Gesetzeshüter/innen spielen in diesem Spiel für zwei bis vier Personen gegen Kriminelle – allerdings werden die Rollen des Öfteren getauscht. Laut Verlag Potato Cat ist es eins der ersten erste brasilianischen Spiele, die transparente Karten einsetzen. Die Illustrationen stammen von Jéssica Lang. Café Express wurde erfolgreich auf catarse.me finanziert, und Potato Cat hat inzwischen schon die nächste Kampagne am Laufen. Diesmal geht es um New Eden Project, das von den gleichen Autor/innen stammt, aber von Tiago Sousa illustriert wurde. In einer düsteren Zukunft herrscht Krieg, und da immer mehr Städte zerstört werden, schlägt die Stunde von Firmen, die innerhalb von Wochen ganze neue Städte hochziehen können. Die Spieler/innen wetteifern nun darum, den besten Stadt aller Zeiten zu planen, die man dann irgendwo in die Einöde bauen kann. Gebaut wird mit einer Kartenauslage.

Os Incríveis Parques de Miss LizEin noch junger Verlag ist Dijon Jogos (ja, wirklich nach dem Senf benannt). Ihre Webseite finde ich wegen dieser Idee schon mal klasse – sowas sollten auch andere Verlage machen (auch wenn solche Zahlen natürlich recht subjektiv sind. Aber 0% sind ja auf alle Fälle mal ne klare Ansage).
Das erste Spiel des Verlags stammt von Diego de Moraes, ist im April erschienen und heißt Os Incríveis Parques de Miss Liz (Die unglaublichen Parks der Frau Liz). Es geht mal wieder um das populäre Thema Vergnügungsparks. Jede/r Spieler/in baut auf einem Tableau einen eigenen Park mit allen möglichen Attraktionen auf – es ist also vor allem ein Plättchenlegespiel, bei dem man versucht, den amüsantesten Park zusammenzupuzzeln, aber man muss dabei auch klug wirtschaften, um sich das überhaupt leisten zu können. Die Illustrationen kommen von João „Raulex“.

AzzelijIn einer Kleinserie bei Zuzu Board Games ist Azzelij von Rodrigo Sampaio Rodriguez erschienen. Es ist ein Plättchenlegespiel, bei dem man Kacheln so zusammenlegen muss, dass die an den Eckpunkten entstehenden Kreise mehrheitlich zur eigenen Farbe gehören. Das schon 2017 erschienene Grundspiel ist ein simples, eher entspanntes Spiel alter Schule. Mittlerweile gibt es eine Erweiterung, mit der man mit deutlich komplexeren Wertungen spielen kann, sodass das Spiel sich interaktiver anfühlt  und auch weitere Spieler/innen-Kreise ansprechen dürfte. Mir macht es mit der Erweiterung jedenfalls wesentlich mehr Spaß als ohne.

PelaghosAls ich im Netz erstmals auf das Fantasy-Piratenspiel Pélaghos stieß, zermarterte ich mir das Hirn, was der Name bedeuten könnte. Online-Wörterbücher halfen nicht, also habe ich nachgefragt: Es handelt sich um den Namen der Spielwelt, und das Wort ist angelehnt an das griechische pélagos, das Meer bedeutet und verkürzt auch im Wort Archipel vorkommt. Wieder was gelernt! Pélaghos stammt von Ney de Alencar sowie von Roice und Thiago Mello und ist das Debutspiel des Verlages Tiki Games. Es hat gerade bei catarse.me eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne absolviert. Man spielt dabei eine von vier menschlichen Nationen und versucht, die Vorherrschaft über einen variable aufgebauten Archipel zu erlangen, in dem nicht nur auch andere Wesen wie Feen und Minotauren, sondern überhaupt eine Menge Gefahren lauern. Siegpunkte kann man mit verschiedenen Vorgehensweisen erlangen, ob durch Handel, Abenteuerfahrten oder anderes. Gesteuert wird das ganze durch massenweise Karten, die man sich in der richtigen Kombination auf die Hand holen sollte. Die Illustrationen stammen von Guilherme Rodrigues Soares. Das Spiel sieht ohnehin groß und ambitioniert aus, aber der Verlag setzt noch einen drauf: Demnächst soll ein Roman von Pedro Ricardo Piccini erscheinen, der in der Pélaghos-Welt spielt.

Tá na mesa scheint ungefähr so viel zu bedeuten wie „Es ist angerichtet!“ Es gibt wieder mal einen Kochwettbewerb, aber diesmal geht es für die Spitzenköche und -köchinnen darum, die beste Hausmannskost zuzubereiten. Die Spieler/innen sammeln Zutaten, bereiten ihre Gerichte zu und müssen sie am Ende auch präsentieren. Wer das am besten schafft, gewinnt. Wer Genaueres wissen möchte, kann sich die aktuelle Crowdfunding-Kampagne ansehen (die Regeln sind auf Portugiesisch, aber das Spiel ist laut Verlag Mamute Jogos kaum sprachabhängig).

Chile

„Die 11“ („La Once“) ist eigentlich eine kleine Zwischenmahlzeit am späten Vormittag, aber in Chile hat der Begriff sich in seiner Bedeutung gewandelt und bezieht sich nun auf eine Mahlzeit am Nachmittag und kann auch einen etwas größeren Umfang einnehmen. Trotzdem hatte ich zuerst Schwierigkeiten, den Spieletitel „La 11 Coffee & Tea Party“ zu verstehen, aber darin geht es letztlich doch um Kaffee und Kuchen. In einem (fiktiven) Café namens La Once gibt es jedes Jahr eine Aktion bei der die Gäste um ihr Essen spielen müssen. Nur die Gewinner/innen kriegen das beste Essen serviert, während sie das Finale ausspielen. Nun hat das Café das Spiel der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es ist ein handfestes Balgen um die beste Dreierkombination der sechs Leckereien (Set Collection und Take That). Neulich hatte ich ja mal geschrieben, dass aus Kolumbien die coolsten Spieleschachteln kommen würden. Aber diese Neuheit aus Chile ist eine echte Konkurrenz dazu, denn sie erinnert an eine Kekstüte. Da kriegt man doch gleich Appetit. Autorin Carolina Baltra möchte mit dem süßen Thema eine über Chile hinausgehende Öffentlichkeit ansprechen, überlegt aber auch, in Zukunft eine Version herauszugeben, die sich eher an den chilenischen Gewohnheiten orientiert. Die Illustrationen stammen von Paloma Amaya und der Verlag trägt den schönen Titel  Juguemos+ („Spielen wir mehr!“).

Sozusagen im letzten Moment bin ich gestern Abend noch auf eine soeben gestartete Crowdfunding-Kampagne für Art Pieces von James Godcastle gestoßen, ein chilenisches Malspiel, von dem ich noch nicht mal weiß, wer es entwickelt hat. Das Spiel scheint zweisprachig (Englisch/Spanisch) zu erscheinen, aber die Kampagne ist komplett auf Spanisch, sodass ich jetzt einfach mal hoffen muss, dass ich das Konzept einigermaßen verstanden habe. Die Gruppe zieht drei Karten, auf denen jeweils ein einzelnes Bildelement vorgegeben wird, sowie ein übergeordnetes Thema. Jede/r hat nun 90 Sekunden lang Zeit, nach diesen Vorgaben etwas zu malen. Allerdings wird erst nach dem Malen eine Karte aufgedeckt, die bestimmt, nach welchem Gesichtspunkt die Bilder bewertet werden. Das sind nicht immer die künstlerisch wertvollsten Gemälde, sondern es kann auch mal das langweiligste oder das einfachste sein.

Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung durch die Rechte-Inhaber/innen. 

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