Die kriminellste Stadt der Welt liegt in…

…unserem Wohnzimmer auf dem Tisch.

Manchmal erzählen Leute was über Spiele, die sie eigentlich mögen wollten, aber dann doch nicht mochten. Mir ging es kürzlich andersrum, und zwar mit MicroMacro: Crime City. Das coole Marketing (etliche Blogger*innen kriegten häppchenweise Postkarten mit Stadtplansegmenten zugeschickt) hatte ich amüsant gefunden, dann den Beispielfall im Netz gespielt und mich davon kurzzeitig unterhalten gefühlt, das Spiel aber hinterher in die „Belanglos“-Schublade einsortiert. Es hatte mich einfach nicht gepackt und ich wollte es nicht mögen. Aber dann sprach ich mit meinem Freund, der es fast durch hatte und mir anbot, mir sein durchgespieltes Exemplar anschließend zu schicken, und das habe ich dann doch angenommen, weil einige Leute schrieben, dass ihre Kinder so drauf abfahren würde. Und Kinder hab ich ja auch. Und dann…

Worum geht‘s?

Das Spielmaterial besteht im Kern aus einem riesigen Stadtplan, der bei uns so gerade auf den Tisch passte (die Anleitung empfiehlt, es an die Wand zu hängen, was bei uns aber nicht so praktisch gewesen wäre). Dieser ist in schwarzweiß gehalten und zeigt eine lebendige Stadt, in der hunderte von kleinen Figuren herumlaufen, also eine Art Wimmelbild. Nun bekommt man einen kleinen Umschlag mit ein paar Karten. In der Regel wird man auf der ersten Karte ein Mordopfer hingewiesen, das irgendwo in der Stadt liegt. Auf der nächsten Karte steht dann eine Frage, die man anhand des Bildes zu beantworten versucht. Hat man die Lösung gefunden, kontrolliert man sie mit der Rückseite der Karte und bekommt die nächste Frage. So fügt sich langsam der ganze Hergang zusammen, mit Verdächtigen, Motiven und Tatverläufen.
Das Innovative an dem Spielplan ist, dass das Wimmelbild keinen bestimmten Zeitpunkt abbildet. Findet man eine gesuchte Person, die gerade irgendwo langläuft, kann man ihren Weg verfolgen, und vielleicht zehn Zentimeter weiter sieht man sie erneut, wie sie sich ihrem Ziel nähert (oder man kann nachvollziehen, woher sie gekommen ist). Unterwegs muss man dann auf Details achten: Mit wem hat sie sich getroffen (und wo kamen diese Leute her oder wo gingen sie hin)? Hat sie irgendwelche Gegenstände bekommen oder abgegeben? Findet man irgendwo ein Mordmotiv? Wenn man die letzte Karte gelöst hat, ist der Fall aufgeklärt. In der Schachtel sind 16 Fälle enthalten, die man in aufsteigender Schwierigkeit spielen sollte. Außerdem kann (und sollte) man irgendwann zur Profi-Variante umschalten und nur noch die erste Karte angucken. Dann macht man sich auf die Suche und versucht, den Fall komplett aufzuklären und guckt erst anschließend nach, was auf den Karten gefragt wird. Merkt man dabei, dass man ein Detail übersehen hat, kann man weiterforschen. Das ist nicht nur anspruchsvoller und interessanter, sondern es erlaubt einem auchMix, parallel verschiedenen Hinweisen an verschiedenen Orten in der Stadt nachzugehen, sodass man sich nicht die Köpfe anhaut, wenn man gemeinsam auf die zum Teil winzigen Details starrt.

Wer sind die Täter*innen, wer die Opfer, wer die Zeug*innen?

Und? Macht das Spaß?

Nach den ersten Fällen hatte ich gedacht: Na ja, damit ist man ja schnell durch. Aber je weiter die Schwierigkeit der Fälle anstieg, desto länger konnte man sich mit ihnen beschäftigen, und wenn wir abends ein paar Fälle gespielt hatten, waren gern mal zwei Stunden um. Klar, nach ein paar Abenden ist man dann doch durch, aber anders als ich zuerst vermutet hatte, hat das bei mir keinerlei Enttäuschung hinterlassen. Im Gegenteil, MicroMacro hat mich deutlich mehr gefesselt und mir erzählerisch mehr geboten, als zum Beispiel die Exit-Fälle.

Absolut sensationell und innovativ ist die Idee mit dem zeitverschobenen Stadtplan. Am Anfang wundert man sich noch, weil irgendwo eine Leiche herumliegt und alle achtlos vorbeigehen – aber die gehen eben zu einer anderen Zeit am Tatort vorbei, als da keine Leiche liegt. Auf der Suche in der Stadt begegnet man auch immer wieder Personen, die mit dem aktuellen Fall nichts zu tun haben und auf deren Fälle man sich dann schon freut. Es gibt natürlich auch eine ganze Menge Personen auf dem Stadtplan, die mit gar keinem Fall zu tun haben und die einfach nur Kulisse sind. Trotzdem ist Crime City ein wirklich heißes Pflaster. Bei dem, was da an Mord und Totschlag so vor sich geht, möchte man da wirklich auf keinen Fall wohnen.

Die Fälle sind natürlich nicht alle gleich gut, gerade zu Anfang sind sie sehr einfach, und auch später gibt es hier und da welche, die ich nicht recht überzeugend fand (die Details haben aber trotzdem Spaß gemacht). Andere dafür sind einfach super, und jeder erzählt eine andere Geschichte; es gibt verschiedene Motive zwischen offensichtlich und absurd, mit überraschenden Wendungen und Dingen zum Schmunzeln. Und immer wieder geht es um kleinste Details – da schadet es nicht, dass dem Spiel eine Lupe beiliegt. Überhaupt ist der ganze Stil beeindruckend, weil man trotz der vielen handelnden Personen eigentlich keine Schwierigkeiten hat, sie auseinander zu halten.

Der erste Fall besteht aus nur fünf Karten. Später werden es mehr.

Offiziell ist MicroMacro ab acht Jahren, aber einige der Hintergründe sind für Erwachsene sicherlich besser zu verstehen. Mit unserer Zehnjährigen gemeinsam hat es aber sehr gut geklappt.

MicroMacro ist ein grandioses Spiel, das eine komplett innovative Idee im Großen und Ganzen ausgezeichnet umgesetzt hat. Wer Spiel des Jahres 2021 werden möchte, muss hierdran erstmal vorbei kommen. Da es im Moment noch nicht wieder lieferbar ist, wandert mein Exemplar weiter an eine Freundin – aber keine Sorge, liebe Verlage, die nächste Stadt werde ich wohl kaufen.

MicroMacro: Crime City
für 1 bis mehrere Spieler*innen (Ich fand es zu zweit am besten.)
von Johannes Sich
Illustriert von Daniel Goll, Tobias Jochinke und Johannes Sich
Spielbar ab 8 Jahren (offizielle Angabe – gern geschehen, S.J.!)
Spielwiese/Pegasus, 2020

Nachtrag vom 27.12.: Ich musste gar nicht so lange warten wie gedacht – es gab drei weitere Fälle zu lösen. Siehe hier. 🙂

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